Ich bin ein Kind der DDR. Ich lebe heute in NRW. Nein, ich ging nicht aus finanziellen Gründen in den Westen.
Die erste Hälfte meines bisherigen Lebens hatte ich im Osten der Republik verbracht. Ich dachte, nichts könne mich aus meiner vertrauten Umgebung reißen, aber es kam anders.
Wenn ich von vorn beginnen sollte, dann weiß ich gar nicht genau, wo der Anfang stehen soll. 1945, nach dem Krieg? 1989, zum Mauerfall? 2003, als ich meine Heimat verließ?
Geschichtlich war der Osten Deutschlands schon lange mehr landwirtschaftlich geprägt als der industrialisiertere Westen, schon zu Zeiten der letzten Kaiser. Eine gut bezahlte Arbeit zu finden war nie leicht und schürte Unmut. Nach dem zweiten Weltkrieg demontierten die Sowjets die Reste der wenigen Industrie. Was ihnen taugte, wurde kopiert und nachgebaut.
Zwei deutsche Staaten existierten 40 Jahre lang nebeneinander, ehe sie in einem politisch motivierten Ruck wie vereint wurden. Doch selbst 2 Generationen können Menschen formen. Während die DDR-Staatspropaganda allen etwas von Antifaschismus und Solidarität erzählte, stopfte sich die regierende Elite die Taschen voll und war „gleicher als gleich“. Die Bürger waren in ihren Rechten beschnitten und Widerworte wurden bestraft. Kaum anders wie zuvor im Dritten Reich, nur unter anderen Farben.
In diese Zeit wurde ich Ende der 1970er hineingeboren. Es wurde mir vom Erhalt des Friedens erzählt und von Völkerfreundschaft, von Hilfsbereitschaft und Arbeiterklasse. Montags waren die Fahnenappelle in der Schule verpflichtend und wir mussten unsere Pionierhemden und blauen oder roten Halstücher dazu tragen; die Älteren ihre blauen FDJ-Hemden. Das war Indoktrination auf dem Schulhof.
Als ich im „Westfernsehen“ von den ersten größeren Montagsdemos in Leipzig hörte, keimte Hoffnung, dass sich das System verändern könnte, an einen Anschluss an die BRD war noch kein Gedanke vorhanden.
Wir hatten durch verwandtschaftliche Verhältnisse schon immer einen Draht in die BRD, mein Vater und seine Geschwister waren sogar noch Anfang 1989 zu einer Familienfeier zu ihren Cousins gefahren. Uns war klar, dass sie dabei überwacht worden waren. Mein Vater war schon immer systemkritisch gewesen, hatte aber keine Ambitionen, dagegen aufzubegehren. Er lehnte aber den ihm oft nahegelegten Eintritt in die SED stets ab. Uns ging es soweit gut in der DDR, hatten Haus, Garten und Acker – waren praktisch Selbstversorger und mussten nur wenig zukaufen. Das war zwar mit viel Arbeit verbunden, sicherte uns aber eine solide Basis.
Ich hatte als 12jährige also mitbekommen, was da in meinem Land, das versuchte, seine Bürger klein zu halten, abging. Mit dem Fall der Mauer im November 1989 war es endlich vorbei. Im Freudentaumel überredete ich meine Eltern dazu, so bald wie möglich unsere Verwandtschaft zu besuchen. Es dauerte nicht lange und wir verbrachten eine Woche in der Weihnachtszeit 1989 im Odenwald. Ich war glücklich, fühlte mich vom Einkauf in einem Aldi total erschlagen, weil ich eine solche Fülle von Waren bisher nicht selbst erlebt hatte.
Nicht für alle verlief die Wiedervereinigung Deutschlands gut. Die ehemals staatlichen Betriebe wurden Opfer eines Ausverkaufs. Nur wenige Investoren wollten wirklich etwas neu und nachhaltig aufbauen. Leute, die sich nicht wie mein Vater selbstständig machen konnten oder wollten und aus den wenigen Mitteln etwas machten, gerieten meist ins Hintertreffen. Die Arbeitslosigkeit im Osten nahm rapide zu und viele, besonders jüngere Menschen, suchten ihr Glück im Westen. Die Unzufriedenheit nahm zu, Orientierung fehlte, Demokratie überforderte die neuen Bundesbürger.
Den Menschen im Osten fehlte es, dass sich der Staat um sie kümmerte, viele waren es nicht gewohnt, ihr Schicksal selbst in die Hände nehmen zu müssen oder scheiterten an bürokratischen Hürden. Das Ergebnis sehen wir heute.
Der „Aufschwung Ost“ sorgte für neue Straßen und ein überspannende Telefonnetz. Man bekam bundesweit dasselbe Warenangebot, aber nicht dieselben finanziellen Möglichkeiten. Woher sollte ein ehemaliger DDR-Bürger auch Vermögen erwirtschaftet haben? Diese Leute fühlten sich immer mehr abgehängt vom Rest der Republik, verloren ihre Hoffnung und ihre Perspektive. Teils mitschuldig, teils den falschen Versprechungen aufgesessen.
Die Wiedervereinigung war meiner Auffassung nach nötig, aber sie lief zu schnell ab und die Unwissenheit der „Ossis“ wurde vielfach ausgenutzt. Uns wurde das System der BRD förmlich übergestülpt von jetzt auf gleich, ohne eine angemessene Übergangszeit. Berufsabschlüsse, wie Handwerksmeister, wurden anfangs nicht anerkannt und mussten neu erworben werden – und danach galt der alte Meisterbrief trotzdem wieder.
Meiner Familie ging es ab der Wende zunehmend besser. Die Baufirma meiner Eltern lief gut und zahlte den Arbeitern faire Löhne. Das war meinem Vater wichtig. Ich arbeitete in der Schule auf mein Abitur zu und begann nach dem Wehrdienst ein Studium zum Bauingenieur. Leider gab es Umstände, die mich die Ausbildung abbrechen ließen.
Das Gute dabei war aber, dass ich während der Studienzeit meine heutige Ehefrau kennenlernen durfte. Ich besuchte sie im Frühjahr 2002 und seitdem waren wir ein Paar. Für ein Jahr lebten wir noch im Osten, ehe ich ihr ins Rheinland folgte. Ich hatte mich schnell eingelebt und heute leben wir immer noch in der Region.
Unser Sohn ist ein bundesdeutsches Kind, wir alle drei sind glücklich, dass es die Wende gab, ohne die es uns so sicherlich nicht gegeben hätte.
Hier bin ich Post- und Paketzusteller geworden, bin also weiterhin ein einfacher Arbeiter. Ich beschwere mich nicht und führe ein ziemlich zufriedenstellendes Leben.
Kommentar schreiben